Vom Ende der Illusion zum Leben im Dazwischen – eine Reflexion zu drei WERKTAGEN Innovation
Von Arlett Rumpff, Studienleitung Innovation im Amt für kirchliche Dienste in der EKBO
Drei Jahre, drei Werktage – eine gemeinsame Bewegung: weg von der Idee einer „reparierten Kirche“, hin zur Entdeckung einer Kirche im Werden. Die Reihe der Werktage Innovation (2023–2025) zeichnet einen geistlichen und kulturellen Lernprozess nach, der Kirche nicht als System, sondern als lebendigen Organismus versteht.
1. Entstehung – Aufbruch aus der Illusion
Als der erste Werktag am 27. September 2023 unter dem Titel „Am Ende der Illusion“ stattfand, war deutlich spürbar: Hier sollte kein weiterer Reformtag stattfinden, sondern eine ehrliche Bestandsaufnahme. Die Moderator:innen Ursula Hahmann und Dr. Valentin Dessoy luden zu einem Tag der Wahrnehmung ein: Wo stehen wir? Welche Narrative tragen uns – und welche täuschen uns? Der Impuls von Bischof Christian Stäblein markierte den Wendepunkt: „Diese Kirchenorganisation wird sterben – und das ist kein Untergang, sondern Teil ihrer Verwandlung.“
Es war eine Einladung zur Nüchternheit – und zugleich zum Vertrauen: Kirche als Organisation mag sich auflösen, doch das Evangelium lebt.
In Kleingruppen wurde über den „Purpose“ gesprochen, das Warum, über Sinn und Motivation, über Freiräume. Der Tag öffnete einen Prozess, der nicht nach neuen Konzepten fragte, sondern nach neuen Haltungen.
2. Innehalten – Das Dazwischen aushalten
Ein Jahr später, am 14. März 2024, führte der Werktag „Vorsicht Stufe“ diesen Weg fort – mit einem bewussten Schritt in die Langsamkeit. Der Untertitel hätte auch lauten können: „Bitte nicht gleich weiterlaufen.“
Christopher Scholtz, Leiter des IPOS in der EKHN sprach über das „Ankommen im Dazwischen“ – jene Zwischenräume, in denen Altes nicht mehr trägt und Neues noch nicht sichtbar ist. Ein Innehalten in der Phase des Übergangs, in dem die übliche Ordnung aufgehoben ist, wo Regeln nicht mehr greifen und noch kein Gegenentwurf zum Bisherigen existiert, mit Unsicherheit, Veränderungsschmerz, aber auch Raum für Kreativität, neue Erfahrungen und Visionen.
In den darauffolgenden Workshops wurde das Abschiednehmen von Themen, von Gebäuden, von Strukturen, von Gemeinden und vertrauten Rollen diskutiert. Das Trauermahl am Nachmittag verband Essen, Reden und Rituale zu einer gemeinsamen Liturgie des Loslassens. Kerzen, Feuertonne, Musik und die Einladung, eigene Trauerkarten zu gestalten und zu verbrennen, machten sichtbar: Abschied ist kein Versagen, sondern Voraussetzung für Verwandlung.
Dieser Werktag war ein leises Gegenprogramm zum Aktivismus. Er lud dazu ein, Verlust nicht zu kompensieren, sondern zu würdigen. Im Innehalten wurde spürbar, dass das Dazwischen kein leeres Nichts ist, sondern ein Raum, in dem das Neue atmen lernt.
3. Entdecken – Das Dazwischen bewohnen
Am 16. September 2025 schließlich wurde das Dazwischen selbst zum Thema: „VerLUST – Kirche ohne ein Betriebssystem“. Etwa 200 Menschen füllten das Gelände des ehemaligen AKD-Bürohauses mit Leben. Aus den alten Büroräumen wurden Experimentierräume – Orte des Hörens, Spielens, Nachdenkens, Feierns.
In Workshops erkundeten die Teilnehmer:innen ihre „Orte im Dazwischen“, ihre Betriebssysteme, nach denen sie funktionieren … oder auch nicht. Dabei standen symbolische Landschaften – Wüste, Ameisenhaufen, Moor, Tiefsee, Mond, Gebirge, Fluss und Großstadt – als Metaphern für ihre kirchlichen Realitäten. So entstanden „Karten des Dazwischens“, in denen Ressourcen, Herausforderungen und Möglichkeiten sichtbar wurden.
Den Nachmittag prägte ein stärkendes Tischmahl im Hof, mit Pizza und der gesamten Nachbarschaft im Kiez. Was 2024 als Trauermahl begann, wurde 2025 zu einem Fest der Lebendigkeit. Menschen aus dem Kiez, Mitarbeiter:innen und Gäste saßen gemeinsam an langen Tischen – Kirche nicht als Konzept, sondern als geteiltes Leben, ein „Möglichkeitsraum“, wie Bischof Stäblein formulierte. „Hier kann Neues wachsen, ohne dass es sofort definiert werden muss.“
Damit wurde deutlich: Das Dazwischen ist kein Übergang mehr, sondern ein Ort eigener Qualität – verletzlich, offen, kreativ.
4. Wozu – Eine geistliche Bewegung
In der Planung sind wir Schritt für Schritt vorgegangen – eine Veranstaltung nach der anderen. Die erste wurde in intensiver inhaltlicher Auseinandersetzung und unter Beteiligung vieler geplant. Doch lange Zeit war offen, wie es danach weitergehen würde. Oft entschieden sich die nächsten Schritte erst kurzfristig. Erst im Rückblick wird eine klare Linie sichtbar: 2023 stand unter dem Zeichen „Die Wahrheit sagen – die Illusionen beenden“. 2024: „Abschied nehmen. Die Trauer zulassen“ und 2025: „Lebendigkeit stärken. Das Dazwischen gestalten.“
Was als ursprünglicher Innovationstag begann, wurde zu einer Spiritualität des Wandels. Kirche verstanden als lebendige Gemeinschaft in Transformation. Sie lernt wieder, was Organisationen oft verlernen: aufhören, zuhören, Raum lassen. Für was auch immer da kommt. Bischof Stäbleins Worte aus dem ersten Jahr bleiben leitend: „Sterben und Leben ist der Weg des Christus – und auch der Weg seines Leibes Kirche.“
Diese Bewegung – vom Ende der Illusion hin zum Leben im Dazwischen – hat uns verändert. Sie hat uns nicht nur neue Formate geschenkt, sondern neue Haltungen. Sie hat uns gelehrt, Unsicherheit auszuhalten, Trauer zu würdigen und Lebendigkeit zu feiern.
Und doch bleibt eine Frage: Wenn wir all das wissen – warum fällt es uns so schwer, es zu leben?
5. Ausblick – Ich bin noch nicht fertig mit meiner Kirche
Die drei Werktage bilden keine abgeschlossene Reihe, sondern eine geistliche Lernspirale. Sie zeigen: Zukunft lässt sich nicht planen – sie will entdeckt werden. Innovation geschieht nicht in Projekten, sondern in Begegnungen. Und Aufhören ist kein Verlust, sondern Raum: für den Geist, für das Neue. Aber mitten in dieser Bewegung meldet sich eine unbequeme Stimme: Das System Kirche, ihre Organisationsform, ihre Strukturen, vor allem ihre Widerständigkeit gegenüber echter Veränderung bleibt davon scheinbar unberührt, bleibt widerspenstig, träge, selbstberuhigend. Warum also kämpfen wir überhaupt noch?
Den sehr empfehlenswerten Artikel von Katharina Scholl Schwarzbrot für die Zukunft und warum die Zeit der innovativen Projekte in der Kirche vorbei ist (Zeitzeichen) im Hinterkopf zeigt sich auch in der EKBO: Innovationsfreude gibt es zwar reichlich – doch nur als schönen Wildwuchs: bewundert, beklatscht, jedoch selten integriert. So stabilisiert sich das System gerade durch jene Projekte, die es als Beweis seiner Wandlungsfähigkeit präsentiert. Die Systemlogik bleibt unangetastet. Alte Muster wirken weiter.
Vielleicht muss Kirche nicht noch mehr tun, sondern anders aufhören?
Aufhören mit dem Selbstbetrug, dass ein bisschen Innovation bei gleichbleibenden Strukturen genügt. Aufhören mit der Hoffnung auf den Applaus der Synoden, als wäre er schon Veränderung. Aufhören mit dem Glauben, Leuchtturmprojekte oder Förderfonds könnten die Kirche retten. Aufhören, Transformation an Einzelne zu delegieren – und das Evangelium als Werkzeug systemischer Stabilität zu missbrauchen. Aber: nicht aufhören mit dem Evangelium. Nicht aufhören, Räume zu öffnen, in denen echte Bewegung möglich wird. Nicht aufhören, im Alltag Muster beweglicher zu machen – auch dann, wenn es unscheinbar bleibt.
Und vor allem: das Mitspielen beenden. Sich dem Ritual des Applauses verweigern. Keine Energie mehr in das investieren, was nur gut aussieht, aber nichts verwandelt. Aufhören – damit endlich Stille einkehren kann. Denn vielleicht geht es gar nicht darum, mit allem aufzuhören, weil nichts mehr zu retten ist. Vielleicht geht es darum, aufzuhören, damit etwas heilen kann. Nicht als Rückzug aus Verantwortung, sondern als Rückkehr zur Mitte. Nicht als Kapitulation, sondern als bewusster Sabbat.
Möglicherweise beginnt echte Transformation nicht mit Aktion, sondern mit einer heiligen Pause. Mit einem Aufhören, das kein Ende, sondern ein Anfang ist. Mit einem Nicht-Tun, das Raum schafft für das Wirken des Geistes. Mit einem Atemholen – für das, was größer ist als wir selbst. Und genau deshalb bin ich noch nicht fertig mit meiner Kirche.
